Die Akte (von Hossam Kalaji)

Der in St. Ingbert lebende Syrer Hossam Kalarji hat uns einen literarischen Beitrag geschickt. Er zeigt die Mühlen der deutschen Bürokratie und die Not derer, die Schutz suchen vor Krieg und Tod. 

Anne ist eine Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde. Sie ist krank. Sie konnte heute nicht zur Arbeit gehen. Sie hat Fieber. Sie schwitzt. Das ist sehr sehr traurig. Hoffentlich wird es ihr abends schon besser gehen, wenn sie einen Ingwertee mit Minze trinkt und dabei Hoffmanns Erzählungen lauscht! Grippe attackiert uns einfach blind. Grippe macht uns krank und zwingt uns, ein paar Tage im Bett zu bleiben. Dann verlässt sie uns, um irgendwann später wiederzukommen.

Ich frage mich, was hat die Grippe davon, dass sie unsere Fälle verzögert? Bereitet es ihr etwa Freude, dass sie meinen Engel Anne krank macht und ihm Halsschmerzen verursacht? Meine kalte graue Akte liegt auf dem Regal in ihrem Büro und wartet darauf, dass Anne eines Morgens mit ihren schlanken Fingern unversehens nach ihr greift. Papierene Akten haben Angst vor Feuchtigkeit. Doch diese Akten brauchen keine Angst zu haben, denn diese Büros sind immer warm, sogar an freien Tagen. Und die liebe Anne ist krank.

Auf der anderen Seite sind da meine Frau und meine Kinder in Syrien. Sie sind auch krank. Vielleicht haben sie auch etwas Warmes zu trinken. Auch sie denken an die Akte, die auf dem Metallregal liegt. Meine Frau, meine Kinder und auch ich denken an diese Akte … wir fühlen ihre Einsamkeit. Wir versuchen, ihr mit unseren Gedanken Trost zu senden und sie mit unserem heißen Atem zu wärmen, wenn sie friert.

Nach Feierabend, wenn die Sachbearbeiter gegangen sind, hat sie hoffentlich eine nette Unterhaltung mit einer anderen Akte. Wir können wahrlich ihre Katastrophe und ihr Drama mitfühlen, denn es ist unsere dramatische Geschichte, die auf ihren Seiten geschrieben steht. Wir bitten sie, schnell Freundschaft mit einer anderen Akte zu schließen, aber nicht für zu lange. Sie soll nicht zu sehr aufgewühlt werden von dem Drama in der anderen Akte, denn Weinen wird ihrer Gesundheit schaden. Und unseren Namen in ihr. Wir konzentrieren unsere Wünsche auf das Wesentliche. Wir wünschen, dass unsere Akte eine hübsche Farbe hat, die zu der Farbe von Annes Seidenschal passt. Er war ein Geschenk ihres Liebsten zum letzten Valentinstag. Deshalb wird unsere Akte die erste sein, die Anne in die Hand nimmt, wenn sie zurückkommt. Das ist unsere Glücks-Akte, denn das Glück von fünf Menschen hängt von ihr ab.

Das Problem ist nur, wie werden wir die Gewehrkugeln in unserem Land überzeugen können, nicht zu fliegen, weil die Grippe in Deutschland noch ihr böses Spiel treibt? Gewehrkugeln sind der Grippe sehr ähnlich, sie sind von Natur aus dumm. Sie sind dickköpfig und explosiv. Während Anne weiter krank ist, wie können wir die Kugeln überreden, im ganzen kommenden Jahr nicht zu fliegen? Zu meinem Wohl, zum Wohl meiner Familie und zu Annes Wohl? Anne, die schon so vertraut ist mit den Akten. Auch zum Wohle meiner Akte, damit sie nicht vom Aktenvernichter gefressen wird. Denn Anne ist noch immer krank. Letzte Nacht habe ich mit meiner Frau und meinen Kindern auf Viper gesprochen. Wir haben uns an den Händen gehalten… wir haben Gebete geflüstert … wir haben demütige Gebete zu Gott geschickt, dass er Anne bitte schnell gesund macht, damit sie am Montag wieder zur Arbeit gehen kann.

Die Akte (Foto: Frank Leyendecker)
Die Akte (Foto: Frank Leyendecker)

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